Diesen Eindruck will Amazon auf gar keinen Fall aufkommen lassen: dass der weltgrößte Onlinehändler während der Corona-Epidemie Wucherpreise für Masken, Desinfektionsmittel und andere unentbehrliche Artikel auf seinem Marktplatz dulden und damit als Profiteur der Seuche dastehen könnte. Deshalb ergriff das Unternehmen früh Gegenmaßnahmen und verbannte Preistreiber von seiner Plattform. Doch dabei ist es in Deutschland zu einer Panne gekommen, die für einige Händler fatale Folgen haben kann. Mit dem Kampf gegen Wucherpreise steht der E-Commerce-Riese nicht alleine da. Rivale Ebay stemmt sich ebenfalls dagegen. Auch die deutschen Verbraucherzentralen sammeln Beschwerden von Konsumenten und gehen gegen eindeutige Fälle von Abzocke vor.

Beim Herausfiltern von Wucherern nutzt Amazon Künstliche Intelligenz (KI), um der Datenflut auf seinem „Market Place“ Herr zu werden. Schließlich sind dort Millionen Angebote gelistet, für die ungewöhnliche Preisbewegungen identifiziert werden müssen. In den Tagen nach der Einführung des Systems in Deutschland im März wunderten sich allerdings viele Händler über den Hinweis „Hochpreisfehler“ und darauf folgende Sperrungen, die sie nicht nachvollziehen konnten.

Die Fehlerursache klingt banal: Das System ignorierte das Komma, das in Europa bei der Angabe von Preisen den vollen Euro-Betrag von den Cent-Ziffern trennt. Statt 109,95 Euro registrierte das System beispielsweise 10995 Euro. Für die Endverbraucher waren diese völlig überhöhten Preise nicht zu sehen.

Im Kampf gegen Regelwidrigkeiten von Markenrechtsverstößen bis Betrug nutzt der Konzern seit jeher Algorithmen. Das neue Thema der Preistreiberei bringt zusätzliche Brisanz. Erst diese Woche forderte Amazon-Manager Brian Huseman den amerikanischen Kongress auf, ein Gesetz gegen Preistreiberei zu erlassen und dem Unternehmen so die Arbeit zu erleichtern. Rund 4000 Händlerkonten sind in den USA mit dieser Begründung gesperrt worden. In Deutschland laufen die Überprüfungen ebenfalls auf Hochtouren. Nach einer hauseigenen Richtlinie könne Amazon „die Entfernung eines Angebots oder die Sperrung eines Kontos veranlassen, um gegen überteuerte Preise vorzugehen“, teilte das Unternehmen seinen Geschäftspartnern schon vor Wochen mit.

Die Blockaden erwischen jedoch auch Verkäufer, die ihre Unschuld beteuern. „Bei uns wurde während der Epidemie kein einziger Preis erhöht“, versichert ein Anbieter von Babynahrung und Pflegemitteln aus Bayern.

„Wir fänden es unfair und beschämend, wenn Händler diese aktuelle Notlage ausnutzten, um durch höhere Preise mehr zu verdienen. Trotzdem sind wir rausgeflogen“, sagt der Mann, der aus Furcht vor weiteren Sanktionen seinen Namen nicht öffentlich genannt haben will. Zunächst seien einzelne Artikel blockiert worden, dann das ganze Konto. Verantwortlich war das Komma-Problem. Amazon Deutschland spricht von einem „vorübergehenden Fehler“, weist aber den Vorwurf unbegründeter Sperrungen zurück. Das Problem sei zudem schnell behoben worden und habe sich nur auf Preisgrenzen ausgewirkt, die Verkaufspartner für ihre Angebote setzen können, um „Preisfehler“ zu vermeiden, sagte eine Sprecherin.

„Allgemein stellen wir sicher, dass unsere Systeme Maßnahmen ergreifen, um Preistreiberei zu verhindern. Sie zielen jedoch nicht darauf ab, Verkaufspartner aufgrund eines versehentlichen Preisfehlers zu sperren“, versicherte sie. Amazons Serviceabteilung „Verkäufer-Performance“ hat das Problem aber intern eingestanden und Abhilfe versprochen. „Es handelt sich hierbei in der Tat um einen größeren technischen Fehler, von dem aktuell viele Händler betroffen sind“, teilte eine Mitarbeiterin dem Betroffenen in einem Schriftwechsel vom 30. März mit.

Und weiter: „Die zuständige Abteilung ist bereits dabei, dieses Problem schnellstmöglich zu lösen, damit Sie wieder unverzüglich verkaufen können.“ Getan habe sich allerdings nichts, so der Bayer. Seit Wochen sei sein Konto inaktiv.

Auch auf Händler-Blogs wird das Thema eifrig diskutiert. „Das Absurde ist, dass die Preisfehler absolut wahllos auftreten“, beschwert sich ein Verkäufer. So sei ein Otoskop – ein Gerät für Ohrenärzte und Akustiker – in der Farbe Schwarz blockiert worden, während es zum gleichen Preis in Blau und Grau weiter zugelassen sei. Ein anderer Kollege berichtet, dass ein Artikel im Zehnerpack gesperrt worden sei, das preisgleiche Einzelexemplar jedoch nicht. Beim in Leipzig ansässigen Händlerbund, der nach eigenen Angaben 80.000 Onlineshops rechtlich vertritt, seien zahlreiche Anfragen zu dem Thema eingegangen, sagte eine Sprecherin.

Amazon verfügt über ein weitgehend automatisiertes Beschwerdemanagement für Händler. „Sie können über den Kennzahlenmonitor Verkäuferleistung widersprechen“, heißt es etwa in einer „Wichtigen Information zu überteuerten Preisen“. Auch besteht eine eigene interne Beschwerdeabteilung („Seller Support“). Doch immer wieder klagen Anbieter auf dem „Market Place“, dass die Kommunikation mit dem Riesen nicht klappt. Begründungen fehlten, Anrufversuche liefen ins Leere. „Die Kontensperrung ist die Sorge Nummer eins der Amazon-Händler“, so Händlerbund-Juristin Sandra May.

Amazon hält die Kritik für unberechtigt. Man arbeite intensiv daran, eine positive Verkaufsumgebung zu schaffen, versicherte die Sprecherin: „Sollten wir andere Anhaltspunkte erhalten, werden wir dies weiter untersuchen.“

Die Wettbewerbsbehörden werden dies genau beobachten. Das Bundeskartellamt hat 2019 ein Missbrauchsverfahren gegen Amazon wegen des Umgangs mit den Shopbetreibern eingestellt, nachdem das Unternehmen große Zugeständnisse gemacht hatte. Es seien zahlreiche Beschwerden eingegangen, wonach Konten ohne Ankündigung und Begründung geschlossen worden seien, hieß es damals in Bonn. Unabhängig davon prüft die EU-Kommission seit letzten Sommer mögliche Kartellverstöße im Umgang mit Händlern.

welt.de : 07:07 Uhr | 15.05.2020

https://www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article208022327/Kommafehler-mit-Folgen.html

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