Amazon will das Shopping-Erlebnis auf seiner Plattform komplett überarbeiten. Der Online-Händler setzt dafür voll auf künstliche Intelligenz, wie bisher geheime Dokumente zeigen. Mit der Methode „Einkaufsagent“ wendet Amazon seinen größten Schatz dabei gegen die Kunden.
Anfang dieses Jahres erschien Joseph Sirosh, Vizepräsident von Amazon, zu einer internen Sitzung in einem T-Shirt mit der Aufschrift „I love AI“ (zu Deutsch: „Ich liebe künstliche Intelligenz“). Sirosh, ein ehemaliger KI-Manager bei Microsoft, war Ende 2022 zu Amazon gekommen. Nun hatte er eine wichtige Botschaft für seine Kollegen: Das E-Commerce-Erlebnis von Amazon wird von Grund auf neu gestaltet.
Business Insider erhielt einen Mitschnitt und eine Abschrift seiner Präsentation. Andere interne Dokumente und Interviews mit Personen, die mit der Angelegenheit vertraut sind, enthüllen eine radikale Überarbeitung von Amazon, die die Art und Weise, wie Verbraucher online einkaufen, verändern sollte.
„Wir haben eine große Aufgabe vor uns“, sagte Sirosh, „wir müssen uns alle auf diese neue Welt einstellen.“ Der Einzelhandelsriese will generative KI-Funktionen in sein Sucherlebnis integrieren. Nach Artikeln zu suchen, soll detaillierter und personalisierter werden.
Die Initiative mit dem Codenamen Project Nile zielt darauf ab, künstliche Intelligenz in die bestehende Suchleiste von Amazon zu integrieren. Das soll sofortige Produktvergleiche, Detailanfragen, Bewertungen und Empfehlungen möglich machen. Sowohl persönliche Einkaufsdaten als auch der Suchkontext gestalten das Erlebnis personalisierter.
Amazon wollte die neue Suchfunktion bis September eingeführt haben. Das wurde aber verschoben, sagt eine der beteiligten Personen. Derzeit werde die Funktion intern getestet und könnte erst im Januar eingeführt werden, zunächst in den USA. Diese Pläne könnten sich jedoch wieder ändern. Die Quellen wollten nicht namentlich genannt werden, da sie nicht befugt sind, mit der Presse zu sprechen.
„Project Nile ist eine vertrauliche Initiative, bei der wir einen dialogfähigen Einkaufsagenten für Einzelhandelskunden entwickeln“, heißt es in einem internen Dokument.
Durch eine verbesserte Suchfunktion erhofft sich das Unternehmen mehr Umsatz, vor allem auf mobilen Geräten. Das Projekt habe intern höchste Priorität und werde von hochrangigen Führungskräften unterstützt, darunter CEO Andy Jassy und Einzelhandelschef Doug Herrington, so die Insider.
Und das Projekt wird große Auswirkungen haben, denn Amazon ist das Standardportal für viele Online-Shopper. Nach Angaben des E-Commerce-Softwareherstellers Jungle Scout beginnen mehr als 60 Prozent der US-Kunden ihre Produktsuche auf Amazon.
KI-Suchfunktion soll proaktiv Suchergebnisse und Produktvorschläge liefern
„Wir äußern uns zwar nicht detailliert zu zukünftigen Plänen, werden aber weiterhin generative KI in all unseren Geschäftsbereichen integrieren“, kommentierte ein Amazon-Sprecher.
Einen ersten Einblick in das Nile Project dürften die Amazon-Mitarbeiter Anfang des Jahres bekommen haben. Und zwar bei einem internen Townhall Meeting mit dem Titel „Reinventing Amazon Shopping with LLMs“ (zu Deutsch: Amazon-Shopping mit großen Sprachmodellen neu erfinden).
Sirosh, VP von Amazon Search und Alexa Shopping, stellte das Project Nile als „supervertraulich“ vor. Er beschrieb es als „KI, die das Einkaufen verändert“ und „die Macht großer Sprachmodelle nutzt, um Kundenfragen zu verstehen und zu beantworten“. Proaktiv soll die neue KI-Suchfunktion Suchergebnisse, Expertenantworten und Produktvorschläge liefern.
Fragt ein Kunde beispielsweise die neue Suchleiste von Amazon „Welche Kaffeemaschine soll ich kaufen?“, werden ihm mehrere Optionen für eine Tropf-, Kapsel- oder Espresso-Kaffeemaschine angezeigt, sodass er nicht mehr jede Produktseite einzeln aufrufen muss.
Fragt der Kunde dann nach den besten Kapselmaschinen, werden ihm die besten Geräte anhand verschiedener Kriterien (wie etwa der Anzahl positiver Bewertungen) angezeigt. Der Käufer kann dann andere Eigenschaften wie Brühzeiten oder Tassengrößen vergleichen oder weitere Details zu bestimmten Produkten anfordern.
Der Kunde kann dann zudem zusammenfassende Bewertungen und personalisierte Empfehlungen erhalten, die auf der individuellen Bestellhistorie sowie Wunschlisten basieren. Sirosh verglich die neue KI-Funktion mit einem fachkundigen Verkäufer im Laden, der den individuellen Geschmack jedes Käufers kennt.
Mobile Amazon-App bekommt neue Funktionen wohl zuerst
„Vor dem E-Commerce war der Verkäufer in der Filiale wie die Suchmaschine. Diese Person wusste alles über die Produkte. Sie sah den Kunden an und wusste, was er will. Denn der Kunde war schon einmal in diesem Geschäft. Der Käufer kannte ihn vielleicht auch persönlich, kannte seine Vorlieben und sprach mit ihm darüber, was er haben will“, sagte Sirosh. „Und das auf alles bei Amazon auszudehnen ist unsere zukünftige Mission.“
Sirosh sagte, dass Amazon plant, der derzeit bestehenden Suchleiste eine Konversationsebene hinzuzufügen. Die neue KI-Funktion wird also je nach Suchanfrage des Nutzers entweder erweitert oder verschwinden – und sogar mehrere Sprachmodelle benutzen.
Die neue Funktion wird wahrscheinlich zuerst für die mobile Amazon-App eingeführt, da die mobile Suche eine niedrigere Konversionsrate in Käufe aufweist als die Desktop-Website, obwohl sie fast 80 Prozent der Suchanfragen auf Amazon ausmacht.
„Wenn wir die Konversionsrate auf dem Handy erhöhen können, indem wir großartige Erlebnisse bieten, großartige Expertenantworten, dann könnte das ein potenziell signifikanter Aufschwung für Amazon sein“, sagte Sirosh.
Project Nile ist nicht der einzige Schritt, den Amazon in puncto KI unternommen hat. Im vergangenen Monat hat das Unternehmen seinen Sprachassistenten Alexa mit einem intelligenteren und gesprächsfähigeren KI-Modell umfassend aktualisiert.
Amazon Web Services hat seine neue KI-Entwicklungsplattform Bedrock der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und gleichzeitig zugesagt, bis zu vier Milliarden Dollar (3,8 Milliarden Euro) in Anthropic, einen Konkurrenten von OpenAI, zu investieren.
Ein neues Team soll Amazons „ehrgeizigste“ Sprachmodelle entwickeln
Zudem beförderte Jassy den Chefwissenschaftler Rohit Prasad im Juli zum Leiter eines neu geschaffenen Teams für künstliche Intelligenz. Das Team soll Amazons „ehrgeizigste“ Sprachmodelle entwickeln.
„Amazon nutzt maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz seit mehr als 25 Jahren in praktisch allen Bereichen, in denen wir tätig sind. In unserem Einzelhandelsgeschäft haben wir in den vergangenen Monaten KI-generierte Highlights aus den Kundenbewertungen sowie neue Tools eingeführt, die es Verkäufern erleichtern, ansprechende und effektive Produktangebote zu erstellen.“
Für die Einzelhandelssparte von Amazon ist Project Nile aktuell eines der wichtigsten Projekte. Sirosh hat sein Team darüber informiert, dass er „das Personal sehr schnell aufstockt“, da Project Nile „absolute Priorität“ hat.
Das Konzept von Project Nile war eine von vielen Ideen, die Amazon-Mitarbeiter Anfang des Jahres in einem internen Dokument mit dem Titel „Generative AI-ChatGPT Impact and Opportunity Analysis“ (zu Deutsch: Analyse der Auswirkungen und Chancen von generative KI-ChatGPT) vorstellten.
Seit OpenAI Ende vergangenen Jahres mit ChatGPT die Welt begeisterte, sucht Amazon intern nach Wegen, vom Boom der generativen KI zu profitieren. Im August sagte Jassy, dass „jedes unserer Unternehmen“ an mehreren generativen KI-Projekten arbeitet.
Amazon glaubt, dass Project Nile einen Wettbewerbsvorteil hat, weil es Zugang zu proprietären Kaufdaten aus Amazons umfangreichem Produktkatalog hat. Zudem kommen die Daten über das Nutzerverhalten und die Informationen über Käufe und Bewertungen.
Um die Qualität der Suchergebnisse weiter zu verbessern, werde Amazon menschliche KI-Trainer einsetzen, die die KI-basierten Antworten überprüfen, so die Amazon-Insider. Diese Personen werden die Qualität der Antworten bewerten und sie mit ChatGPT, Microsofts Bing Chat und Googles Bard vergleichen. Es könnte auch eine Partnerschaft mit Alexa eingegangen werden, um die Textsuche auf die Sprachsuche auszuweiten.
Wie Amazon „Halluzinationen“ vermeiden will
Eine der größten internen Sorgen sei die Genauigkeit der Suchergebnisse. Die KI-Dienste von OpenAI, Microsoft und Google zeigen manchmal falsche Informationen an, die gemeinhin als „Halluzinationen“ bezeichnet werden. Amazon hofft, diese Probleme durch den Einsatz von Tools zur Moderation von Inhalten und menschlichen Gutachtern zu entschärfen, oder indem es sich einfach weigert, auf heikle Fragen zu antworten.
Amazon könnte auch die Hilfe von Drittanbietern in Anspruch nehmen. Das Unternehmen erwägt den Einsatz von ChatGPT, um sensiblere Fragen zu beantworten, mit anderen KI-Unternehmen wie YouChat könnte das Unternehmen zusammenarbeiten, um mehr Datenunterstützung zu erhalten, so die Quelle.
Während des internen Townhall Meetings kritisierte Sirosh die Unzulänglichkeiten von Amazon als Suchmaschine. Er sagte, dass Amazon in seiner jetzigen Form nicht in der Lage sei, frühere Suchdaten zu nutzen, um den Kontext zukünftiger Ergebnisse zu erhalten, da „jede Suche bei Amazon neu ist“.
Angesichts des zunehmenden Wettbewerbs müsse Amazon schnell handeln, fügte Sirosh hinzu, auch wenn Sicherheits- und Compliance-Probleme dies erschweren könnten. „Leider werden wir aus Gründen der Datensicherheit nicht in der Lage sein, Dinge wie GPT und OpenAI zu tun. Viele unserer Konkurrenten hingegen könnten ChatGPT nutzen, und sie haben weniger zu verlieren“, so Sirosh.
Dennoch zeigte sich Sirosh zuversichtlich, dass KI das Suchgeschäft von Amazon und das Einkaufserlebnis insgesamt dramatisch verändern werde. „Generative KI ist die neue Norm“, sagte Sirosh im Meeting. „In der Software-Welt wird sich alles, was wir tun, grundlegend verändern.“
11.10.2023 | Eugene Kim | Welt