16.04.2023 | Florian Kolf | handelsblatt
Herr Otto, viele sehen den Onlinehandel als Totengräber der Innenstadt. Ist Ihre Otto-Group mitschuldig am Sterben von einst stolzen Marken wie Kaufhof und Karstadt?
Der Höhepunkt der genannten Warenhäuser liegt schon einige Jahrzehnte zurück, sodass deren Niedergang gewiss nichts mit dem Onlinehandel zu tun hat. Der Onlinehandel generell verschärft vielleicht die Probleme, aber die eigentliche Ursache liegt doch in der zunehmenden Monotonie in vielen Innenstädten. Stets dieselben Ketten prägen das Bild, die Städte werden immer austauschbarer.
Im Modehandel werden bereits 50 Prozent des Umsatzes online gemacht. Haben da Warenhäuser überhaupt noch eine Zukunft?
Der Onlinehandel insgesamt hat einen Marktanteil von gut zehn Prozent. Aber richtig ist: Händler werden in den meisten Fällen nur überleben, wenn sie ihre Filialen mit dem E-Commerce verknüpfen. Die Händler, die sich weggeduckt haben und dachten, die Digitalisierung wird schon über sie hinweggehen, die haben jetzt die größten Probleme. Der Onlinehandel bietet doch auch für den stationären Einzelhandel große Chancen.
Haben Sie da als Onlinehändler nicht gut reden?
Es wird gern übersehen, dass wir im Konzern viele Stationärgeschäfte haben, bei Manufactum, Lascana, Witt oder Crate & Barrel in den USA. Da konnten wir beispielsweise die Umsatzausfälle in der Coronazeit durch ein stärkeres Onlinegeschäft ausgleichen. Und durch die Digitalisierung in den Läden können Sie zusätzlichen Umsatz machen, indem Sie Produkte zeigen, die Sie im Zentrallager haben und den Kunden zuschicken können.
Die italienische Piazza als Vorbild für die Innenstadt
Aber das kann ja nur gelingen, wenn die Menschen überhaupt wieder in die Städte kommen.
Deswegen muss es das Ziel sein, die Städte wieder stärker zu beleben. Dafür müssen wieder viel mehr Wohnungen gebaut werden, gerade in den Innenstädten. Büros, die wegen des Trends zum Homeoffice nicht mehr gebraucht werden, kann man beispielsweise zu Wohnungen umfunktionieren.
Sind viele Städte noch zu sehr auf den Handel fixiert?
Im Grunde ja, wir brauchen eine andere Mischung des Angebots. Da müssen die Stadtplaner, aber auch die Immobilienbesitzer umdenken und mit den Händlern gemeinsam Konzepte entwickeln. Denn sonst überleben nur die, die die hohen Mieten zahlen können. Entscheidend ist die Verbesserung der Aufenthaltsqualität, die Menschen müssen sich wohlfühlen. Sie brauchen ausreichend Gastronomie, Sitzmöglichkeiten, auch Kulturveranstaltungen, lokale Anbieter, kleine Manufakturen und Handwerksbetriebe. So wie auf einer italienischen Piazza, wo die Menschen sich treffen, einen Cappuccino trinken und dann auch einkaufen.
Mit Ihrem Schwesterunternehmen ECE betreiben Sie auch Shoppingcenter. Droht denen angesichts der zurückgehenden Kundenfrequenz nicht das gleiche Schicksal wie den Warenhäusern?
Die Gefahr besteht, aber hier investiert die ECE in eine verstärkte Attraktivität der Center. Darüber hinaus gibt es die Chance, in der Kombination mit einer Onlineplattform die Frequenz zu erhöhen und zusätzliche Umsätze zu machen. Wir haben beispielsweise mit ECE ein Joint Venture, mit dem wir den Einzelhändlern in deren Einkaufszentren eine Software anbieten, mit der sie auch über unsere Otto-Plattform verkaufen können.
Aber gerade junge Kunden sind immer schwerer ins Geschäft zu bekommen. Was müssen die Center tun, um attraktiv zu bleiben?
Shoppingcenter sorgen mit einem guten Angebotsmix, mit betreuten Spielräumen für Kinder und mit attraktiven kulturellen und Sportangeboten für eine hohe Attraktivität, auch bei jüngeren Kundinnen und Kunden.
Ist das auch ein Rezept für die Innenstädte?
Man müsste die Innenstädte wie Shoppingcenter managen. Alle müssten unter dem Management von Citymanagern an einen Tisch geholt werden. Für die Städte ist das aber viel schwieriger, weil ganz viele unterschiedliche Immobilieneigentümer mit eigenen Interessen zusammenkommen.
Fehlt es an Geld oder an guten Ideen?
Es fehlt eher an überzeugenden Konzepten. Wenn diese vorliegen, dann kann man überlegen, wer sich daran finanziell beteiligt. Und klar ist: Uns läuft die Zeit davon, es muss jetzt gehandelt werden.
„Warenhäuser sind längst keine Magneten mehr“
Die Realität aber ist, dass die Kommunen jammern, ihnen würden mit den geschlossenen Kaufhof- und Karstadt-Filialen die Kundenmagnete wegfallen. Können die diese Aufgabe denn überhaupt noch erfüllen?
Nein, die Warenhäuser sind schon längst keine Magneten mehr. Sie hätten es sein können, wenn sie die Entwicklung nicht komplett verschlafen hätten. In den 70er-Jahren hatten die Warenhäuser noch einen Marktanteil von 15 Prozent. Heute entspräche das einem Umsatz von fast 100 Milliarden Euro – das ist weit mehr als dreimal so viel wie Amazon mit all seinen Aktivitäten in Deutschland heute erzielt.
Otto ist ja im Grunde die digitale Version eines Warenhauses. Waren Sie nie in der Versuchung, selbst mal ein Warenhaus zu betreiben?
Wir hatten tatsächlich Ende der 60er-Jahre einmal ein SB-Warenhaus in Hamburg-Eidelstedt eröffnet. Das hat unser Logistik-Geschäftsführer aufgebaut, und das war schon nach einem Jahr profitabel. Dann wollten wir das ausbauen, haben aber den Fehler gemacht, Fachleute für Warenhäuser zu holen. Die haben das Konzept verwässert und kleine Warenhäuser mit zwei Stockwerken und mit Bedienung entwickelt. Da haben wir schnell gemerkt, das funktioniert nicht, und die Häuser dann an Horten verkauft.
„Von der guten Idee existiert nur noch der Name“
Wann ist die Entwicklung für die Warenhäuser denn gekippt?
Das fing schon in den 70er-Jahren an, als die ersten SB-Warenhäuser und Fachhandelsketten aufkamen. Das haben die Vorstände der Warenhauskonzerne nicht ernst genommen. Den gleichen Fehler haben sie dann viel später beim Aufkommen des Onlinehandels gemacht. Wer solche Entwicklungen nicht sieht, der gerät zwangsläufig in Probleme. Am innovativsten war damals Horten mit dem Galeria-Konzept. Aber von dieser guten Idee existiert ja heute nur noch der Name. Kaufhof hat Horten übernommen, aber das Konzept nicht weiterentwickelt.
Was war an diesem Ansatz so erfolgversprechend?
Horten hat damals schon sehr viel stärker Markenshops angeboten und klare Schwerpunkte im Sortiment gesetzt. Und das hätte man weiterentwickeln müssen und mit einem Onlineangebot ergänzen können, das die gesamte Sortimentsbreite ergänzt. Karstadt hätte nach der Übernahme von Neckermann und später dann im Verbund mit Quelle alle Möglichkeiten gehabt, eine bedeutende Position im Onlinehandel aufzubauen. Man darf nicht nur die Bedrohung durch neue Vertriebsformen sehen, sondern auch die Chancen, die sich damit bieten.
Das heißt, der Niedergang der Warenhäuser ist kein Naturgesetz, sondern eher eine Folge von Missmanagement?
Die deutschen Warenhauskonzerne haben lange Zeit die Veränderung unterschätzt und nicht reagiert. Gucken Sie doch nur nach Spanien. Das Warenhausunternehmen El Corte Inglés hat sich sehr früh neu ausgerichtet und steht heute hervorragend da.
Ist das Erfolgsgeheimnis die permanente Veränderung?
Ja, das konnten Sie doch auch bei den großen Versendern sehen. Wir waren schon 1995 mit unserem gesamten Sortiment online, obwohl damals erst weniger als ein Prozent unserer Kunden überhaupt Zugang zum Internet hatten. Aber die Unternehmen, die gesagt haben, wir beginnen sehr vorsichtig und warten erst mal ab, die gibt es heute nicht mehr.
Warum sind Sie dieses Risiko eingegangen?
Es ist enorm wichtig, die Weichen frühzeitig zu stellen, wenn es einem gut geht. Dann hat man noch die Mittel, um in die Transformation zu investieren.
Ihr Vater hat bei der Gründung der Otto Group gleich auf den Versandhandel gesetzt. War das eine frühe Skepsis gegenüber dem Filialhandel?
Nein, das war ein glücklicher Zufall. Er hatte nach dem Krieg mit einer Schuhfabrik angefangen und ist dann auf den Schuhversand umgestiegen, weil er dort gute Chancen sah. Im ersten Katalog waren noch Fotos auf die Seiten geklebt, er wurde mit einer Kordel zusammengehalten. Der zweite war dann schon gedruckt und gebunden.
Sie haben dann das Unternehmen Stück für Stück auf den E-Commerce umgestellt. Wie schwer ist es Ihnen gefallen, den Otto-Katalog abzuschaffen?
Das war damals sicherlich eine einschneidende Geschichte. Eher für die Kunden als für uns. Im Grunde haben nicht wir es entschieden, sondern die Kunden, die damals schon über 90 Prozent online bestellt haben und nicht mehr über den dicken Hauptkatalog.
„Wir wollen nicht Amazon kopieren“
Sie sind zwar früh in den E-Commerce eingestiegen, dann hat aber doch Amazon in Deutschland die Standards gesetzt. Wie kam das?
Amazon hat sich über den Kapitalmarkt finanziert und das Glück gehabt, trotz jahrelanger Verluste und etlicher Wechsel des Geschäftsmodells immer wieder Investoren zu finden, die das mit Milliarden finanziert haben. Auch heute machen sie ihre Gewinne hauptsächlich über Services wie Retail Media und das Cloud-Geschäft. Dadurch konnten sie im Handel viele Sachen umsetzen, die andere Unternehmen, die auf Gewinne angewiesen waren, nicht machen konnten.
Otto hätte doch auch alle Möglichkeiten gehabt, schon damals einen eigenen Marktplatz aufzubauen. Haben die klassischen Händler dieses Potenzial nicht erkannt?
Ebenso wie Amazon haben auch wir erst sehr viel später begonnen, einen Marktplatz aufzubauen. Dafür braucht es die technischen Voraussetzungen und die Kundenfrequenzen aus dem eigenen Handelsgeschäft.
Aber ist es nicht doch eine Frage der Ideen? Sie hatten mit Hermes eine eigene Logistik, bevor Amazon darüber nachgedacht hat. Sie kannten als Versender Ihre Kunden, da wäre ein Abo-Modell wie Amazon Prime naheliegend gewesen.
Sie müssen sehen, dass ein traditioneller Einzelhändler, wie wir es waren, eine gewisse Zeit braucht, um ein digitaler Konzern zu werden. Wir haben es geschafft, weil wir früh angefangen haben. Aber auch wir haben viele Jahre gebraucht, um erst aus dem Katalogversand ein so starkes Onlinegeschäft zu machen und nun mit otto.de erfolgreich einen Marktplatz aufzubauen. Wenn Sie ein Unternehmen neu gründen, geht es sehr viel schneller. Das sieht man beispielsweise an unserem Konzernunternehmen About You
Wenn Sie zurückblicken: Hätten Sie experimentierfreudiger sein müssen, um mit Amazon mithalten zu können?
Wenn einer experimentierfreudig war, dann wir. Wir waren als Erster im BTX dabei, als Erster im E-Commerce, wir haben die ersten Fonds für Start-ups gegründet, wir haben heute Beteiligungen an über 300 Start-ups. Wir waren immer sehr innovativ, wir hatten 2001 sogar die erste virtuelle Ankleide, wo das Metaverse noch gar nicht denkbar war. Nein, es ist und bleibt am Ende eine Frage des notwendigen Zeitbedarfs für eine Unternehmenstransformation und die der finanziellen Ressourcen.
Trotzdem hat es nicht gereicht, Amazon zu schlagen. Sind Sie zufrieden als starke Nummer zwei?
Immerhin sind wir die starke Nummer zwei. Wir wollen nicht Amazon kopieren, wir haben einfach ein anderes Konzept. Wir bieten persönlicheren Service, legen sehr viel Wert auf nachhaltige Produkte und lassen nur Händler auf unseren Marktplatz, die Umwelt- und Sozialstandards einhalten, in Deutschland ihre Steuer zahlen und für Reklamationen erreichbar sind. Lieber langsamer etwas Gutes entwickeln als mit großen Schritten etwas, hinter dem wir nicht stehen können. Wachstum um jeden Preis wollen wir nicht.