Selbst über die Rückkehr von Amazon-Gründer Jeff Bezos spekulierte die Welt des Onlinehandels in den vergangenen Wochen. Ein deutlicheres Zeichen dafür, wie sehr der E-Commerce gerade durchgeschüttelt wird, kann man sich wohl kaum vorstellen. Der Grund: Der Börsenwert des Versandkonzerns halbierte sich binnen Jahresfrist, die Zahl der Entlassungen schoss dagegen auf 18 000 in die Höhe. Da hilft doch nur noch die Rückkehr des Messias, oder?
Andererseits muss Amazon fast dankbar sein. Knapper lässt sich das rasante Auf und Ab im Onlinehandel kaum darstellen. Dem Boom infolge von Corona-Lockdowns folgte der Absturz, verursacht von Ukraine-Krieg, Inflation und der Wiederöffnung stationärer Geschäfte. Achtung: Die Umsätze liegen jedoch immer noch über Vor-Corona-Niveau.
Aber trotzdem: In Deutschland schrumpfte der Umsatz im Onlinehandel sogar erstmals – dem Branchenverband BEVH zufolge. Er ging um 8,8 Prozent von 99 Milliarden Euro 2021 auf 90,4 Milliarden Euro 2022 zurück. „Der Onlinehandel ist in einer neuen Realität angekommen“, sagte BEVH-Hauptgeschäftsführer Christoph Wenk-Fischer. Doch worin besteht die?
Wie hat sich das Einkaufsverhalten geändert?
„Wir beobachten aktuell: Manche Kundinnen und Kunden halten bei ihrem Einkauf zunächst nach etwas teureren Artikeln Ausschau, die eine höhere Wertigkeit und Langlebigkeit versprechen“, sagt ein Amazon-Sprecher in Deutschland. „Dann greifen sie in vielen Fällen aber doch zu günstigeren Produkten.“ Dieser Trend gilt generell, bei Bekleidung, Lebensmitteln, online und offline. Die Verbraucher suchen nach Sonderangeboten, und sie kaufen gerade bei Dingen des täglichen Bedarfs zunehmend sogenannte No-Name-Produkte.
Wer spart am meisten?
Familien. Schaut man sich die Entwicklung der durchschnittlichen Ausgaben pro Einkauf je nach Altersgruppen an, sieht man: Jüngere und Ältere, in der Regel ohne Familienmitglieder zu Hause, geben nur etwas weniger aus als in den Vorjahren, so eine BEVH-Studie. Die Generation 60 plus hat den Onlinehandel in der Pandemie für sich entdeckt und will offenbar nicht mehr davon lassen. Am stärksten aufs Geld müssen hingegen die mittleren Altersgruppen achten. Hier finden sich überwiegend Haushalte, in denen Familien leben. Die haben in der Regel ein größeres Ausgabenbudget als die anderen, Schulsachen, Kleidung, Essen, Ferien, wenn alle anderen auch verreisen. Jetzt aber sparen sie. Weil sie das Geld nur einmal ausgeben können: fürs Heizen oder für den Urlaub. Das deckt sich mit Studien, wonach Familien besonders von der Inflation betroffen sind.
Welche Produkte werden jetzt im Gegensatz zur Vor-Corona-Zeit gekauft?
Medikamente und Lebensmittel bestellen viele nun häufiger als vor Corona im Internet. Hinzu kommen Käufe, die sich schlecht aufschieben lassen: Spielzeug für den Kindergeburtstag oder Hundefutter. Flüge und Tickets etwa für Konzerte haben 2022 dagegen weniger Leute online gebucht als 2019, was wohl den Corona-Einschränkungen geschuldet war und sich schnell ändern kann. Bekleidung kauften die Deutschen insgesamt nicht so viel wie früher, vielleicht wegen Home-Office, tendenziell verschiebt sich der Kauf aber ins Internet, wenn auch langsam. Auffällig: Bei Jüngeren kamen vor allem ökologisch umstrittene, weil Wegwerf-Mode produzierende Billiganbieter aus China, teils mit Standort in der Türkei wie Shein oder Trendyol gut an.
Boomt Secondhand wegen des Umweltgedankens?
Nein, die meisten Verbraucher kaufen oder verkaufen gebrauchte Gegenstände, um Geld zu sparen oder zu verdienen, ergab eine grenzübergreifende Studie von Cross-Border Commerce Europe. Der Wunsch, so eine Kreislaufwirtschaft in Gang zu bringen, war zweitrangig. So oder so, der sogenannte Re-Commerce floriert neuerdings, laut der Studie wachsen Marktplätze für guterhaltene oder wiederaufbereitete Konsumgüter 20 Mal schneller als der gesamte Einzelhandel, darunter Anbieter wie Ebay Kleinanzeigen, Momox, Rebuy oder Vinted.
Stehen Gratis-Retouren jetzt auf dem Prüfstand?
Ja, denn sie sind laut dem Kölner Handelsforschungsinstitut EHI ein „Gewinnvernichter“. Dazu kommt: Deutschland hält hier einen traurigen Rekord. In kaum einem anderen Land werden so viele Pakete wieder zurückgeschickt. Außerdem sind hier Rücksendungen bei viel mehr Onlinehändlern kostenlos als im Rest der EU. Wegen höheren Kostendrucks fangen nun aber auch hierzulande mehr Händler an, entweder einen Mindestbestellbetrag für eine „kostenlose“ Zustellung zu verlangen oder Retouren zu bepreisen, etwa bekannte Marken wie H&M, Zara oder Uniqlo. Die Online-Marktführer in Deutschland, Amazon, Otto und Zalando, lehnen eine allgemeine Retourengebühr aber ab. Dafür steigen bei ihnen die Gebühren für Verkäufer auf ihren Marktplätzen.
Wenn Online schwächelt, profitieren dann die Stationären?
Nicht wirklich. Nach vorläufigen Zahlen des Handelsverbandes Deutschland schneidet der Gesamtmarkt Einzelhandel zwar etwas besser ab als der reine Onlinehandel: Der Verband rechnet für 2022 mit einem nominalen Umsatzplus von 7,5 Prozent auf 633,4 Milliarden Euro und einem realen, inflationsbereinigten Rückgang von 0,1 Prozent. Aber zwischen Lebensmitteln und Bekleidung klaffen riesige Unterschiede. „Stationäre Einzelhändler kommen zurück“, sagt ein BEVH-Sprecher, „aber weniger auf Kosten der reinen Onlinehändler, sondern auf Kosten der eigenen Online-Umsätze, mit denen sie sich in den ersten Corona-Jahren am Leben gehalten haben.“ Es sei eher so: Im Onlinehandel blieben die Umsätze weiter deutlich über dem vorpandemischen Niveau, während der stationäre Handel es schwer habe, wieder an die alten Umsätze anzuknüpfen. „Wenn Menschen sich jeden Kauf gut überlegen, ist das Internet wegen der hohen Vergleichbarkeit von Angeboten und Preisen der Kanal der Wahl.“ Auch E-Commerce-Experte Alexander Graf sagt: „Die grundsätzliche Verschiebung von offline zu online dauert an. Die aktuelle Durststrecke wird den E-Commerce mittelfristig noch stärker machen.“ Denn die Unternehmen seien gezwungen, effizienter zu werden, bis hin zu kleineren und weniger Verpackungen. „Der stationäre Handel hingegen hat seine Optimierungsmöglichkeiten längst ausgeschöpft.“
Was bedeutet das für die Gesamtwirtschaft?
Die Stimmung der Verbraucher hellt wieder auf, die Inflation sinkt, und die konjunkturellen Aussichten verbessern sich. Das „Stimmungsbarometer“ des HDE verharrt trotzdem weiter auf einem niedrigen Niveau. Die Unsicherheiten bleiben, vor allem wegen des Ukraine-Krieges. Die Bereitschaft zu größeren Anschaffungen, etwa Autos und Möbel, zeichnet sich noch nicht ab. Die Marktforscher der GfK schätzen daher, dass „der private Konsum in diesem Jahr keinen positiven Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung leisten kann. Einer der Gründe dafür sei die anhaltend hohe Inflation, die zu einem sinkenden real verfügbaren Einkommen der Haushalte führt, was den privaten Konsum dämpft. Der BEVH erwartet dennoch einen um knapp fünf Prozent steigenden Umsatz auf dann 94,7 Milliarden Euro – ein Wert unter dem von 2021.